Schulleiter a.D. Dumonts Tagebuch

Samstag, 14. September 2019


Tag 76 der Baustelle:

Da ich den Samstagvormittag als Verantwortlicher übernommen hatte, war ich früh auf den Beinen und schloss schon um halb acht Uhr die Gittertüren zum Schulhof und die Halle auf. Wieder konnte ich die Aufwärm- und Dehnübungen bestaunen, die diese jungen Menschen da vollbrachten. Bei einigen Bewegungen und „Verrenkungen“ fiel mir nur der Begriff „Schlangenmensch“ ein. Wahnsinn, wie weit man ein Bein ausgestreckt an den Körper ziehen kann!

Auch unsere Kids „tropften“ langsam und noch etwas verschlafen in die Halle. Vermutlich ein Dorn im Auge eines jeden YA. Sie wurden sofort angestachelt und integriert – wie immer bei lauter und bassbetonter Musik. So war ich fast froh, dass ich draußen nach den Mülleimern schauen konnte, kehrte auch um die Tischtennisplatten Laub und Papier zusammen, sammelte verteilte Flaschen in die Kästen, wischte hier einen Biertisch ab, stellte dort die Bank gerade, leerte die blauen Müllsäcke, legte einfach Hand an bei dem, was mir auffiel.

 

Die nächste Spannung, die aufkam, betraf das Mittagessen. Logistisch ja kein Pappenstiel: In kurzer Zeit 200 Essen liefern und ausgeben. Zur Ausgabe hatte ich bereits Tische der Biergarnituren gerichtet, doch je länger der Vormittag dauerte, umso mehr wanderte die Sonne zu diesen Tischen. Jetzt standen sie im prallen Sonnenschein. Also setzten einige Kolleg/-innen, die eigens kamen, um beim Mittagessen zu helfen, die Tische nochmals um und stellten sie unter dem Dach auf. Dort war und blieb es schattig. Zum wiederholten Mal profitierte der Workshop von dem herrlichen Spätsommerwetter. Die Zeit verstrich, aber der Caterer war nirgends im Anmarsch, Was war los? Kurzer Anruf bei ihm. Er hatte sich den falschen Zeitpunkt notiert. Die YA fürchteten um ihren genau getakteten Zeitplan. Wir beruhigten sie damit, dass die Eltern mit Sicherheit kein Problem damit hätten, wenn der Workshop eine halbe Stunde als geplant dauern würde. Aber mir wurde versichert, dass unsere Schüler so fit seien, dass sie die zusätzliche Zeit aufholen würden. Sie verstünden schnell, worum es bei dieser oder jener Bewegung ginge.

In einer Pause dann nahm ich in der Halle eine in der Nähe des Techniktisches liegende Gitarre zur Hand. Immer wieder stellte ich auf den bisherigen Shows und Videos fest, dass die bei der Show der YA die verwendeten Gitarren eher kabellos als Staffage genutzt werden – jedenfalls waren sie nie am Mischpult angeschlossen. Waren sie überhaupt gestimmt? Ich klimperte also etwas herum. Diese Gitarre war tatsächlich gestimmt. „Hey George, come to us!“, rief mir Jake, der künstlerische Leiter, zu. Ich wollte die Gitarre weglegen und dachte, ich solle eine Frage beantworten oder ein anderes Problem lösen und legte die Gitarre weg. „No, no, pick up the guitar!“ Also trug ich die Gitarre quer durch die Halle zu den auf der hinteren Bühne versammelten Sängern und Tänzern. Jake bedeutete mir, ich solle etwas vorspielen. Äh, wie? Jetzt und hier? Ungeübt? Ohne die Fingernägel glatt geschliffen zu haben? Und alle hören zu? „Yeah, George, come on!“ Hmm, was kann ich denn noch, fuhr es mir durch den Kopf angesichts meiner steifer gewordenen Finger. Mi favorita, eine kleine spanische Serenade, konnte ich seinerzeit im Schlaf. Also los. Die müsste noch klappen. Ich setzte mich auf den Hallenboden und spielte dieses romantische, ans Herz gehende Stück. Der Applaus, der Jubel und die Rufe, die danach zu hören waren, schienen echt zu sein: „That’s awesome!“ oder war es nicht doch „That’s amazing, George!“? Wie auch immer, das hatte ich bisher auch noch nicht erlebt: George is playing the guitar in front oft the YA!

Die Mutter eines Teilnehmers war gestern sichtlich beeindruckt und meinte, dass sie Kontakte zur Presse habe und ob nicht eine Redakteurin der Tageszeitung kommen könne. Über das, was hier los sei, müsse man doch berichten. Und flupp hatten wir heute einen Pressetermin. Dank des herrlichen Wetters saßen wir draußen auf einer Biergarnitur. Die vier Klassenzimmer, die die YA immer „buchen“ blieben wieder ungenutzt. Eine Gruppe saß im Schulhof auf dem Boden. Einzelne Schülerinnen und Schüler wurden ermuntert aufzustehen und sich gegenseitig vorzusingen. Keine Ahnung, weshalb das bei diesen Workshops immer und immer wieder funktioniert! Jedenfalls konnten wir genau dieses Geschehen während des Pressegesprächs beobachten. Zufällig war der Schülersprecher anwesend, er wolle nur kurz mal vorbeischauen und Atmosphäre schnuppern. Als ehemaliger Teilnehmer konnte er eigene Erfahrungen einbringen, ebenso ein Mutter, die mit am Tisch saß und das Meinungsbild nochmal erweiterte. Prima!

Als ich gegen siebzehn Uhr nach Hause fuhr, hatte ich dann doch fast den ganzen Nachmittag miterlebt. Zwar hatten wir uns die Zeiten aufgeteilt, aber diese Stimmung um den Workshop herum, die ich so liebe, lässt mich kaum ziehen, zumal in der Halle gerade der „Lionsking“ eingeführt wurde. Tänzerisch und emotional immer wieder der Höhepunkt der Show. Da wird der „spirit“ der YA am deutlichsten spürbar. Auch bei mir. Fast kenne ich ihn auswendig, weiß, dass ein einzelner Trommler in buntem Licht mit lauten und sich steigernden Schlägen vorne beginnt, weiß, wann und mit welcher afrikanisch klingenden Mehrstimmigkeit die Sängerinnen und Sänger beginnen, wann die Träger der Bambusstangen von hinten hinzukommen und die Stangen im Rhythmus auf den Boden stoßen, wann sie sich links zu einem Quadrat formieren und einen Wald (oder Gras der Savanne?) im Wind imitieren, um sich gleich danach wieder zu verteilen und wie die Stangen dann als angedeutete Speere fungieren, kenne die Stelle, an welcher sich bei der sich stets  steigernden Musik unsere Kids von den Seiten angelaufen kommen und sich mit allen YA schnell zu verschiedenen Kreisen formieren müssen, dass sich dann alle im Rund hinknien werden, um mit flachen Händen auf den Boden im Rhythmus des Liedes den Herzschlag nachzuahmen - „the circle of life“ – all das habe ich über die Jahre doch Dutzende Male erlebt und beobachtet und doch spürte ich auch heute diese eigenartige Anspannung, ein Zittern im Bauch, eine Bewegung von Zwerchfell und Magen (?) und wie dann doch wieder erneut die Augen feucht werden. Einzigartig eben!


Die bisher erschienen Bücher sind erhältlich im: www.littera-verlag.de/Bücher
(Das Autorenhonorar kommt dem Förderverein der IGS zu Gute.)

Tagebuch_6 Soeben erschienen
„Schulleiters Tagebuch 6,
Die Baustelle und Corona“
2021


Letztens 2 „Letztens 2 - ,
Erlebtes rund um die Schule“
2020

Tagebuch 5
„Schulleiters Tagebuch 5,
Warten auf den Bau“
2017 – 2019

Letztens 1 „Letztens –
Schulleiters Tagebuch ergänzende Kolumnen“

tagebuch_4_ "Schulleiters Tagebuch 4,
Der Weg zum Abitur
2014 - 2017"

Tagebuch 1-3"Deshalb IGS -
Positionen und Hintergründe zur Integrierten Gesamtschule mit Beiträgen aus Schulleiters Tagebuch 1 bis 3"

Tagebuch 3 "Schulleiters Tagebuch 3,
Die ersten Abschlüsse,
2012 - 2014"

Tagebuch 2 "Schulleiters Tagebuch 2,
Der Start in Deidesheim,
2010 - 2012"

Tagebuch 1 "Schulleiters Tagebuch,
Der Start in Wachenheim,
2010 - 2012"