Schulleiter a.D. Dumonts Tagebuch

Freitag, 16. Juli 2021


Tag 734 der Baustelle

Letzter Schultag dieses verrückt gelaufenen Schuljahres und nicht nur das, denn nach knapp dreißig Jahren als Lehrer neigt sich heute ja auch mein Berufsleben seinem Ende zu. Doch ich hatte keine Zeit, diesem Gedanken Raum zu geben. In der ersten Stunde übte ich mit der Fünferklasse in Musik nochmals den Schulkanon. Dann ließ ich mir erzählen, wie sie sich auf den gestrigen Überraschungsauftritt am Standort Deidesheim vorbereitet hatten. Noch immer leuchteten ihre Augen, dass sie es hinbekommen haben, mich so in Unkenntnis zu lassen und diesen Coup gelandet zu haben, ohne dass ich es auch nur geahnt habe. Dabei stand heute noch immer auf der Hausaufgabentafel: Cupsong üben! „Da hätten Sie doch etwas erahnen müssen!“ Wie faszinierend!

Es sollte bei dieser Kurzstunde bleiben, denn der gesamte Jahrgang fünf und eine Sechserklasse hatten um neun Uhr einen Termin auf dem Schulhof zu bewältigen. Die Sieger im Projektwettbewerb sollten heute bekannt gegeben und in den Kategorien Einzel-, Gruppen- und Klassenprojekt belohnt werden. Die Inzidenzzahlen erlaubten ja durchaus, dass sich ein ganzer Jahrgang im Freien treffen konnte. Im Grunde war das seit über einem Jahr mal wieder so etwas wie ein Assembly und für die Fünfer, die dies ja noch nie erlebt hatten, das erste schlechthin. Wie sehr vermisste ich es, mit dem Stufenleiter sich die „Bälle“ zuwerfend, diese Jahrgangsversammlung erleben zu können. Natürlich wollte ich sie nutzen, um mal wieder mit einem kompletten Jahrgang das Schullied im Kanon anzustimmen - ein letztes Mal mit dieser Gitarre begleitend und diese dann der Musiklehrerin zu übergeben. Dieses Instrument war vor dreizehn Jahren die erste Anschaffung, die ich für die junge Schule tätigte. Kein schlechtes Instrument und mit eingebautem Stimmgerät und Cinch-Anschluss leicht zu verstärken. Irgendwie war sie so etwas wie „Schulleiters Gitarre“, sie stand immer im Teamraum, niemand sonst spielte darauf. In wie vielen Einsätzen mag sie wohl unter meinen Fingern erklungen sein? Jetzt übergab ich sie der Musik-Fachschaft. Möge sie, mit jüngeren Fingern bespielt, ab jetzt in der Bandklasse erklingen! Noch so ein Moment, der mich kurz innehalten ließ.

Ich musste aber los. Ich hatte den Förderkindern versprochen, um halb elf bei ihnen zu sein. Sie wollten sich eigens von mir verabschieden. Ich wurde in den abgedunkelten Differenzierungsraum geleitet und wiederum vor eine Leinwand gesetzt. Die Kinder hatten doch tatsächlich einen eigenen Film produziert mit einer selbsterfundenen Geschichte, in welcher eine Reise mit „Dumont airlines“ zur Heilung von Krankheiten beiträgt. Am Ende des kurzen Films fliegt ein gefalteter Kranich, als Trickfilm eingebunden, in den blauen Himmel, einfach nur schön und umwerfend. Alle haben sich dann persönlich in einem kurzen Clip von mir verabschiedet. Oh Mann, das ist alles so tief berührend und geht so unter die Haut. Und noch immer war kein Schlusspunkt gesetzt, denn ich sollte auch noch bei einer achten Klasse vorbeischauen. Hatten sie doch tatsächlich gesammelt, um mir eine Ukulele zum Abschied zu schenken! Selbst die versuchte Flucht in die Raucherecke brachte anschließend keine Muse, mich zu besinnen. Einige Kolleginnen und Kollegen spürten mich auch dort auf, das Sekretariat hatte, nach den Nachfragen, wo ich denn sei, richtig vermutet. Nochmals Geschenke und nochmals warme und herzliche Worte zum Abschied.

Erst als sich das Schulgebäude angesichts des Ferienbeginns geleert hatte, kehrte auch um Schulleiters Abschied etwas Ruhe ein. Ich verstaute die reichlichen Geschenke schon mal im Auto, darunter einiges, was die Absicht vermuten könnte, mich zum Trinker machen zu wollen. An meinem letzten Unterrichtstag beging ich einen Tabubruch und parkte, von Wachenheim kommend, mangels freier Parkplätze im Schulhof. Das zahlte sich jetzt aus und verkürzte den Gang mit den Geschenken im Arm um einige Meter. Im Büro – oh, da steht ja noch ein Abschiedskuchen, der mit Sicherheit noch angeschnitten werden wollte -  sank mein Adrenalinspiegel bei einer Tasse Filterkaffee dann langsam wieder auf Normalzustand. So viele Worte, so viele Tränen (bei beiderlei Geschlecht) und diese überwältigende Anteilnahme über zwei Tage hinweg, hatte ich nicht erwartet. Jetzt konnte ich endlich allein im Büro sitzen und allen Emotionen, Worten und Begegnungen nochmal nachspüren. Das muss ja alles auch erst einmal verarbeitet werden, diese tiefen Eindrücke müssen sich doch mal setzen dürfen.

Zu Hause lag dann noch ein nach altem Brauch und Sitte handgeschriebener Brief aus Potsdam. Einem ehemaligen Schüler hatte „…ein Vöglein gezwitschert, dass nicht nur im benachbarten Berlin demnächst eine Ära sich dem Ende neigt, sondern auch an meiner alten Schule“. Und fasziniert las ich in dem fünfseitigen Brief nicht nur davon, was er rückblickend und dankend alles aus seiner Schulzeit an der IGS auch für das Studium mitgenommen hat, sondern auch folgenden Abschnitt:

„Auch persönlich habe ich – und sicherlich auch viele andere – viel von der IGS mitnehmen können: Andere Menschen zu tolerieren, zu akzeptieren, zu respektieren, ganz egal, was, wie und wer sie sind – das soziale Miteinander – haben wir mit auf den Weg bekommen. Auch, wenn viele den Schulsong belächelt haben: Im Kern hast du uns darin einen Grundsatz mitgegeben, der die Gesellschaft um ein Vielfaches verbessern würde, wenn ihn alle mit auf den Weg bekommen hätten.“

Kann es etwas Schöneres geben, diesen „Verabschiedungsmarathon“ abzuschließen? Und wenn ich ihn nochmals überblicke: Ist es nicht geradezu phänomenal und famos, dass sich immer wieder die beiden Lieder, der Schulkanon und das Kranichlied, wie ein roter Faden durch diese Tage zogen? Nun ist es durchaus nicht überraschend, wenn die beiden Lieder mit meiner Person verknüpft sind, wo ich sie doch immer wieder eingebracht und angestimmt habe. Aber es gibt Hinweise darauf, dass sie darüber hinausgehen, nicht nur in dem Brief aus Potsdam. Hatte ich in dem Podcast zum Schullied nicht gesagt, dass Lieder vereinen und zusammenschweißen, dass Lieder Zugehörigkeit ausdrücken und Zusammenhalt vermitteln können? Dies kann man sich wünschen, man kann das auch beabsichtigen, man kann es inständig und mit Nachdruck wollen, herstellen kann man es nicht. So etwas muss bei vielen Beteiligten langsam wachsen, so etwas muss für die Vielen stimmig sein, sich durch Erfahrungen und viele Begegnungen einfach „ereignen“. Dass dies mit den beiden Liedern offensichtlich stattgefunden hat, dass sie nicht nur mit meiner Person, sondern auch mit der Schule insgesamt verknüpft sind und dass sie in diesen Tagen meiner Verabschiedung immer wieder auftauchten, das empfinde ich als einen furiosen Glücksfall und als das schönste Geschenk, eben, weil genau dies nicht absichtlich bewirkt werden kann. Das kann man nicht kaufen, das kann man nicht auf Antrag abstimmen, das kann man nicht in einem pädagogischen Konzept festlegen, das muss in tieferen Schichten erlebt werden und entwickelt sich von alleine oder es entwickelt sich eben nicht. Umso größer ist meine Dankbarkeit.

Ich wurde fast schmerzhaft immer wieder gefragt: „Was wird die Schule nur ohne dich machen?“. Ich formulierte in diesen Tagen die Frage um: „Was werde ich ohne die Schule machen?“, eine Frage, auf die ich wohl erst in nächster Zeit eine Antwort finden werde. Die beiden letzten Tage werden mir Kraft dafür geben. Es ist schon so, dass ich froh war, eine „große“ Verabschiedungsfeier „verhindert“ zu haben. Durch die besondere Struktur, durch die Inhalte und Reden hätten sich bei weitem nicht diese dichten und persönlichen Momente einstellen können. So, wie es war, war es schön - heute, gestern, die letzten dreizehn Jahre in Deidesheim/Wachenheim und die letzten 29 Jahre als Lehrer.     

 


Die bisher erschienen Bücher sind erhältlich im: www.littera-verlag.de/Bücher
(Das Autorenhonorar kommt dem Förderverein der IGS zu Gute.)

Tagebuch_6 Soeben erschienen
„Schulleiters Tagebuch 6,
Die Baustelle und Corona“
2021


Letztens 2 „Letztens 2 - ,
Erlebtes rund um die Schule“
2020

Tagebuch 5
„Schulleiters Tagebuch 5,
Warten auf den Bau“
2017 – 2019

Letztens 1 „Letztens –
Schulleiters Tagebuch ergänzende Kolumnen“

tagebuch_4_ "Schulleiters Tagebuch 4,
Der Weg zum Abitur
2014 - 2017"

Tagebuch 1-3"Deshalb IGS -
Positionen und Hintergründe zur Integrierten Gesamtschule mit Beiträgen aus Schulleiters Tagebuch 1 bis 3"

Tagebuch 3 "Schulleiters Tagebuch 3,
Die ersten Abschlüsse,
2012 - 2014"

Tagebuch 2 "Schulleiters Tagebuch 2,
Der Start in Deidesheim,
2010 - 2012"

Tagebuch 1 "Schulleiters Tagebuch,
Der Start in Wachenheim,
2010 - 2012"