Schulleiter a.D. Dumonts Tagebuch

Sonntag, 06. Juni 2021


Tag 694 der Baustelle

Zumindest waren in den Pfingstferien drei Tage Kurzurlaub in der Südeifel drin. Genial hat meine Frau ein Auge auf die Wetterprognosen online geworfen. Die Tage mit Sonnenschein im Blick behaltend, hatte sie auch kurzfristig ein Hotel für uns gefunden. Gerade am Tag nach der Ankunft traten die Lockerungen des Lockdowns in Kraft. Auf der Fahrt noch hörten wir, das Smartphone über Bluetooth ans Autoradio angeschlossen, die Presskonferenz der Ministerpräsidentin. Angesichts der schnell sinkenden Zahlen wird auch der eigentlich für zwei Wochen angekündigte Wechselunterricht nach Pfingsten gekürzt. Natürlich gut zu wissen, aber viel aktueller jubelten wir darüber, dass wir jetzt sogar das kleine Schwimmbad in unserem Hotel jetzt nutzen konnten. Ein Schwimmbad! Türkisblau gekachelt! Sich im Wasser tummeln, tauchen, schwimmen, plantschen…über ein Jahr hatten wir das nicht gehabt! Wie herrlich sich das anfühlt!

Aber nicht nur das Tummeln im Wasser entbehrte ich über diese Corona-Zeit hinweg. Das wurde mir erneut beim Lesen eines Interviews auf ZEIT-online klar. Dort wurde ein neues Buch eines emeritierten Professors besprochen (Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte. München 2021,) und ich las verwundert die Worte: Musiker fänden es…

„[…] ein völlig unplausibles Modell, dass das Gehirn beim Musizieren der Hand Befehle erteilen würde. Das Spielen umgeht nicht nur den bewussten Denkprozess, sondern die Intelligenz ist in die Hand eingewandert. Ich meine das völlig ernst: Teile des Gehirns stecken in der Hand“.

Hatte ich nicht Ähnliches im vergangenen Jahr zu Beginn der Pandemie geschrieben, als ich die Gitarre wieder öfter zur Hand nahm? Nicht wissenschaftlich analytisch, eher praktisch erfahren, aber im Ergebnis derselbe Zusammenhang? Die Suchfunktion des Computers fand die Stelle gleich: Es war der Eintrag vom 3. April 2020. Mich hatte diese Parallele so fasziniert, dass ich das Buch gleich in „meiner“ Buchhandlung bestellte und es mit in die Eifel nahm.

Hörischs Buch gleicht einer Lobeshymne auf die menschliche Hand in vielen ihrer Ausprägungen. Die Hände sind mit dem Kopf „koevolutionäre Organe“ (ebd. S. 10), wenn sie kooperieren, was sie ständig tun, weil sie gar nicht nicht kooperieren können. Den Siegeszug begannen die Hände in dem Moment, als sich der homo erectus aufrichtete und die Vorderläufe nicht mehr zum Fortbewegen benötigte. Die nun freien Hände konnten beginnen all das Stück für Stück zu lernen, was sie heute können und beflügelten mit den vielen Eindrücken und Tätigkeiten damit auch die Entwicklung des Gehirns, welches die ganzen neuen Eindrücke und Erfahrungen speichern musste. 

Hände sind des Menschen vielseitigstes Organ, das seit jeher massiv bis in die Sprache hineinwirkt. Das Werk, das die Hände verrichten können, wird im Handwerk zum wichtigen Lebens- und Entwicklungsfaktor. Eine wichtige Stufe war die Erfindung der Schrift, ganz individuell ausgerichtet in der je eigenen Handschrift. Hände können streicheln, bewegen, bearbeiten, fühlen, wahrnehmen, aber auch hauen, stechen, foltern und töten. Davon abgeleitet basieren weitere Bereiche auf dem Vorhandensein und dem Erfahrungsbereich unserer Hände. Aufgrund der haptischen Fähigkeiten erweitern sich zunächst taktile Erfahrungen in den kognitiven Bereich: Die Hand kann etwas anfassen, berühren, begreifen. Schließlich hat man etwas begriffen, was dann nur noch kognitiv stattfindet, etwa einen Zusammenhang oder eine Abstraktion und kann sich davon einen Begriff machen oder rein gedanklich neu bilden. Ebenfalls bedient sich der Bereich der Empfindungen Ableitungen von händisch Erfahrenem. „Wir versuchen zu begreifen, welche Gefühle uns ergriffen haben; wir fühlen uns ergriffen, wir möchten loslassen können, wir klammern uns an dies oder jenes, wir hauen erregt auf den Tisch, wir re(a)gieren mit starker Hand“ (ebd. S. 19). Auch wie wir uns gegenseitig behandeln und überlegen, wem wir etwas zu treuen Händen übergeben, mit wem wir Hand in Hand durchs Leben gehen oder wen wir nicht oder nur mit Handschlag begrüßen, wo oder womit wir uns die Hände schmutzig machen, in welchen Situationen mal die Hand ausrutscht, mit wem wir Handel treiben. Hände können konstruktiv und destruktiv wirken und von manchem Zusammenhang müssen wir uns emanzipieren (lat: manus, Hand, auch die Manufaktur leitet sich davon ab). Ich habe im Letzten Jahr die heilenden Hände meines Physiotherapeuten erlebt, habe ebenfalls bei der Firmung die segnende Hand des Bischofs aufgelegt bekommen. Weiter gesponnen möchten wir unser Leben doch in die eigene Hand nehmen und wissen doch gleichzeitig nicht, von wessen Händen wir selbst getragen sind und uns alle wird die kalte Hand des Todes einmal aus dem Leben mitnehmen - die Metaphorik der Hand geht ins Unermessliche. Neben der profitablen öffentlichen Hand lenkt uns längst nicht mehr die unsichtbare Hand Gottes, sie ist anscheinend durch die ebenfalls unsichtbare Hand des Marktes abgelöst worden, wohl einer Nachfahrin des Goldenen Kalbes.

Und dennoch weist Hörisch im digitalen Zeitalter auf eine Epoche der Handvergessenheit hin. Galt über lange Zeit hinweg derjenige als genial und belohnenswert, der mit seinen Händen etwas erschafft, was andere nicht vermögen, sei es im Handwerk oder in der Kunst, wird gegenwärtig in immer weiteren Bereichen Geld verdient, ohne dass eine Hand dafür gerührt wurde. Die größten Gewinne verzeichnen, so Hörisch, digitale Konzerne wie Google, Facebook oder Twitter mit unsichtbaren „Waren“, die nicht mehr handgreiflich sind. Auch Mitteilungen gehen nicht mehr in einer Handschrift von der Hand, sondern werden fast ausschließlich noch in Computern oder Smartphones getippt (wozu immerhin noch die Finger der Hand benötigt werden), Begegnungen finden zuhauf nicht mehr in einer mit den Händen zugreifenden Nähe statt, sondern vermehrt digital, ganz ohne Händchen halten. Ja sogar um die Hand anhalten kann heute auf einer digitalen Plattform stattfinden.

Jochen Hörisch betrachtet dann in seinem Buch die bildende Kunst, etwa Dürers „Betende Hände“ und die Hände der „Mona Lisa“ und geht nahezu die gesamte Literatur von Goethe (Faust!), über Kleist, Thomas Mann, Büchner, Brecht, Kafka und anderen durch und belegt, dass sich das Handmotiv wie ein roter Faden auch durch die Literatur zieht. Beim Lesen tauchte unverhofft ein Gedicht von Eduard Möricke tief aus meiner Erinnerung auf. Der Vers mit den Händen, aus denen übersatt, und nicht endend, nicht nur alles kommt, sondern überquillt, war tief in mir eingebrannt, aber verschüttet. Plötzlich stand er mir vor Augen, als hätte ich ihn gestern erst gelesen:

Herr! schicke, was du willt,
Ein Liebes oder Leides;
Ich bin vergnügt, dass Beides
Aus Deinen Händen quillt.

Wollest mit Freuden
Und wollest mit Leiden
Mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
Liegt holdes Bescheiden.

 Doch zurück zum Schwimmbad und dem herrlichen Gefühl, Entbehrtes wieder erfahren zu können, nahezu schwerelos und von Wasser umgeben durch das Becken zu schweben (und sich dann mit einem Handtuch abzutrocknen). Auch die sich so lange entwickeln könnende Hand war über ein Jahr mit all dem, was sie im Beziehung stiftenden Umgang miteinander bewirken kann, wie abgeschnitten oder amputiert. Hoffentlich sind nicht viele der Gefahr erlegen, die amputierte Hand zu ersetzen und mit eiserner Hand zu leben wie Wallenstein. Wie oft habe ich während der Pandemie die Hand zur Begrüßung hingestreckt und erst der Kopf musste sie im letzten Augenblick zurückziehen, weil das doch den Hygieneplänen widersprach. Wie oft war meine Hand unterwegs zu einer Schulter oder einem Arm, um Berührung zu stiften, um jemanden zu begreifen, und wie oft musste ich die geplante Berührung stoppen, weil sie dem Infektionsgeschehen in die Hände gespielt hätte. Wie viele „Getto-Fäuste“ meiner Fünftklässler fanden kein Ziel, weil wir uns alle nicht anrühren durften, Abstand und Distanz regierten über ein Jahr die Begegnungen und das Leben. Meine Hände konnten sich - permanent desinfiziert und steril - kaum daran gewöhnen. Ich bin davon überzeugt: Nicht etwa fehlende Inhalte durch die Schulschließungen, durch Home-Schooling und den Wechselunterricht werden dieser Schülergeneration zu schaffen machen. Vergessen und Wissenslücken waren zu allen Zeiten schon ein großer Bestandteil schulischen Lernens und dazu eine enorm wichtige Eigenschaft des menschlichen Gehirns. Das alles kann, wenn es denn wirklich wichtig ist, nachgeholt werden. Bleiben wird aber ein unberührter Jahrgang, dem vielleicht sogar ein Jahr ihres Lebens abhandengekommen ist und dem ein Jahr nicht nachzuholender Berührungen fehlt. Und doch werden sie Hand an die Gestaltung ihres späteren Lebens legen müssen und sie werden auch dies irgendwie schaffen.

Vielleicht, ganz langsam und schrittweise, wird das alles wieder zurückkommen können, hoffentlich. Dann wird das Umspült-sein von Wasser wieder Alltag in einem Schwimmbad sein können und wir werden uns, wie seit Jahrtausenden entwickelt, wieder mit normalen Handlungen begegnen und ganzheitlich erfassen können.


Die bisher erschienen Bücher sind erhältlich im: www.littera-verlag.de/Bücher
(Das Autorenhonorar kommt dem Förderverein der IGS zu Gute.)

Tagebuch_6 Soeben erschienen
„Schulleiters Tagebuch 6,
Die Baustelle und Corona“
2021


Letztens 2 „Letztens 2 - ,
Erlebtes rund um die Schule“
2020

Tagebuch 5
„Schulleiters Tagebuch 5,
Warten auf den Bau“
2017 – 2019

Letztens 1 „Letztens –
Schulleiters Tagebuch ergänzende Kolumnen“

tagebuch_4_ "Schulleiters Tagebuch 4,
Der Weg zum Abitur
2014 - 2017"

Tagebuch 1-3"Deshalb IGS -
Positionen und Hintergründe zur Integrierten Gesamtschule mit Beiträgen aus Schulleiters Tagebuch 1 bis 3"

Tagebuch 3 "Schulleiters Tagebuch 3,
Die ersten Abschlüsse,
2012 - 2014"

Tagebuch 2 "Schulleiters Tagebuch 2,
Der Start in Deidesheim,
2010 - 2012"

Tagebuch 1 "Schulleiters Tagebuch,
Der Start in Wachenheim,
2010 - 2012"