Schulleiter a.D. Dumonts Tagebuch

Dienstag, 21. Juli 2020


Tag 387 der Baustelle

„Sand am Strand ist der denkbar schlechteste Untergrund für ein operiertes Knie, weil es keinen festen Stand hat und immer unkontrolliert ausgleichen muss. Auch die Physiotherapie würde unterbrochen und eine lange Autofahrt an die Ostsee müsste durch viele Pausen unterbrochen werden, um das Knie zu bewegen“, meinte der Arzt im Krankenhaus zu meiner Frage nach dem Urlaub. Also fassten wir früh den Entschluss, dass ich zu Hause bleibe und die Familie alleine ans Meer fuhr. Nun hatte ich, das Positive in den Vordergrund gerückt, Zeit in großem Umfang zum Lesen.

Zunächst griff ich nach einer Autobiografie von Klaus Hoffmann, die seit Weihnachten auf die Lektüre wartete. Während des Studiums hörte ich dessen Lieder ganz oft. Vor allem seine Texte über Berlin hatten es mir angetan. Berlin während des kalten Krieges, Zufluchtsort für alle möglichen kreativen Menschen oder Kriegsdienstverweigerer, rundum eingemauert, geteilt und zerschnitten, aber faszinierend bunt in seinem Überlebenswillen. So saugte ich Hoffmanns Verse über die „Geliebte Berlin“, den „Kreuzberger Walzer“ oder über die verlassene Kneipe „Estaminet“ tief in mich ein. Etwa zehn Besuche im damals noch geteilten Berlin und später zwei Abschlussfahrten mit Zehnerklassen lösten eine etwas eigenartige Stimmung und Faszination für Berlin in mir aus, sah ich doch den noch unbebauten Spreebogen, dort, wo heute das Regierungsviertel, fast täglich in der Tagesschau zu sehen, emporgewachsen ist, kenne noch den alten Reichstag ohne Kuppel, hinter dem wir immer unmittelbar mit der S-Bahn vorüberfuhren, das geschlossene Brandenburger Tor und den Bahnhof Friedrichstraße, an welchem wir immer aufgeregt die Grenze nach Ostberlin überqueren mussten, auch die Grenzanlage am Checkpoint Charlie mit dem weltberühmten Schild „You are leaving the american sector“ gehörte wie der große und mauerumzäunte Potsdamer Platz, der heute so mondän bebaut ist, zu meinen bleibenden Eindrücken dieser Inselstadt, von deren Einheit oder gar Hauptstadtdasein nicht einmal im entferntesten Traum zu denken war. Wie gesagt: all das steckt für mich auch in den Liedern von Klaus Hoffmann, durch welchen ich auch Stimmung und Atmosphäre des belgischen Chansoniers Jacques Brel lieben lernte. So tauchte ich in der ersten Woche des Krankenlagers durch die Autobiografie Hoffmanns auch tief in meine eigene ein und ließ Gefühle erwachen, die lange geschlafen hatten oder überdeckt waren, bestellte mir zwei CDs mit den damaligen Liedern und hörte mich satt, entdeckte biografische Elemente, auf dem so manches Lied basiert, etwa „Der König dieser Kinder“ über einen Drehorgelspieler, den Hoffmann selbst in einem der Hinterhöfe Berlins immer wieder erlebt hatte.

Durch das Gästebett im Wohnzimmer hatte ich auch anhaltend und dauerhaft das Bücherregal vor Augen. Ich blickte immer wieder auf ein Buch, das ich 1993 nach einer Sendung des „Literarischen Quartetts“ sofort gekauft hatte, weil es von allen vier beteiligten Kritikern über alles gelobt wurde. Ich schaffte es aber nicht mal zur Hälfte, ich konnte die Begeisterung nicht teilen und stellte es damals zurück ins Regal, immer wieder mit dem Vorsatz, es irgendwann einmal fertig zu lesen. Jetzt hatte ich Zeit dazu und vielleicht mit einem anderen, mag sein auch mit einem reiferen Vorverständnis, könnte ich ihm die späte Referenz erweisen. Das Lesebändchen lag noch immer zwischen den Seiten, die seinerzeit das Ende meiner Lektüre festhielten. Ich nahm es also jetzt wieder zur Hand: „weiter leben“ von Ruth Klüger, einer jüdischen Frau, die den Holocaust in drei Lagern überlebt hatte, nach dem Krieg nach Amerika auswanderte, dort Literatur studierte und eine angesehene Literaturwissenschaftlerin wurde. Und tatsächlich, was ich für möglich hielt, trat ein. Jetzt, da ich in reiferen Jahren das Buch natürlich nochmal von vorne zu lesen begann, entwickelte es auch in mir diesen Sog, von dem in der Sendung von 1993 die Rede war. Ja, auf Youtube war die damalige Sendung komplett zu sehen, die ich mir begleitend ebenfalls nochmal anschaute. Und nicht nur dies. Das Lesen dieses Buches zog weitere nach sich, die Erinnerungen von Primo Levi und Elli Wiesel, die ebenfalls die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatten, den Roman „Der Schrecken verliert sich vor Ort“, in welchem Monika Held die Gespräche mit hunderten von KZ-Insassen zu einer fiktiven Geschichte verwob, ließ mir zwei weitere Bücher von Ruth Klüger zuschicken, in welcher sie als Wissenschaftlerin immer wieder mit ihren Erfahrungen Literatur betrachtete. Zwar keine „leichte“ Sommerlektüre, gewiss, aber eine immer wieder notwendige. Vor allem in einer Zeit, in welcher sich erneut oder immer noch dumpfes Gedankengut hochspült und sogar wieder in Parlamenten geäußert wurde. Eigentlich unvorstellbar und deswegen vielleicht noch wichtiger als zu anderen Zeiten meines Lebens. Für mich auch an Berlin und Klaus Hoffmann anknüpfend, denn das damals geteilte Berlin und die DDR waren ja eine unmittelbare Folge des Nationalsozialismus‘. Und heute? Der Besuch des in Bayern geborenen Moderators und Hipp-Hoppers mit dunkler Hautfarbe, David Mayonga, in einer Talkshow des Norddeutschen Rundfunks führte mich weiter in die Gegenwart. In seinem Buch „Ein N**** darf nicht neben mir sitzen“ erzählt er von alltäglichem Rassismus in der heutigen Bundesrepublik. Der Titel des Buches ist ein Zitat aus seiner Kindergartenzeit, als ein Junge den Stuhl im Sitzkreis mit diesen Worten besetzt hielt. Abends dann die Demonstrationen in verschiedenen Städten der Vereinigten Staaten gegen rassistische Polizeigewalt…welch ein Sommer, welche Themen, welche intensive Beschäftigung auch mit mir selbst, auf mich selbst zurückgeworfen und sozusagen ohne Unterbrechung dranbleiben zu können. So gesehen verschmerzte ich den für mich ausgefallenen Urlaub bestens und nein, mir drohte in keiner Minute „die Decke auf den Kopf zu fallen“.  


Die bisher erschienen Bücher sind erhältlich im: www.littera-verlag.de/Bücher
(Das Autorenhonorar kommt dem Förderverein der IGS zu Gute.)

Tagebuch_6 Soeben erschienen
„Schulleiters Tagebuch 6,
Die Baustelle und Corona“
2021


Letztens 2 „Letztens 2 - ,
Erlebtes rund um die Schule“
2020

Tagebuch 5
„Schulleiters Tagebuch 5,
Warten auf den Bau“
2017 – 2019

Letztens 1 „Letztens –
Schulleiters Tagebuch ergänzende Kolumnen“

tagebuch_4_ "Schulleiters Tagebuch 4,
Der Weg zum Abitur
2014 - 2017"

Tagebuch 1-3"Deshalb IGS -
Positionen und Hintergründe zur Integrierten Gesamtschule mit Beiträgen aus Schulleiters Tagebuch 1 bis 3"

Tagebuch 3 "Schulleiters Tagebuch 3,
Die ersten Abschlüsse,
2012 - 2014"

Tagebuch 2 "Schulleiters Tagebuch 2,
Der Start in Deidesheim,
2010 - 2012"

Tagebuch 1 "Schulleiters Tagebuch,
Der Start in Wachenheim,
2010 - 2012"