Schulleiter a.D. Dumonts Tagebuch

Donnerstag, 15. Juli 2021


Tag 733 der Baustelle

Dass dies kein normaler Donnerstag werden würde, war mich schon irgendwie klar. Immerhin standen eine Dienstbesprechung und die Personalversammlung an. Erstere war all die Jahre zuvor dadurch gekennzeichnet, dass ich ausscheidende Kolleginnen und Kollegen verabschiedete und einen Ausblick auf die Personalsituation für das kommende Schuljahr gab. Mir war auch klar, dass ich für meine eigene Verabschiedung etwas zu erwarten habe. Bis auf den gestrigen „Rausschmiss“ aus der Schulleitungssitzung hatte ich aber nicht die geringste Andeutung erhalten, was da kommen könnte.

Doch zuvor stand ein mir Termin in meinem Kalender, der mir irgendwie etwas „reingedrückt“ vorkam. Der Personalrat und der stellvertretende Schulleiter hatten einen Termin belegt, der als Thema „Personalangelegenheiten“ angab. Kam mir schon seltsam vor, aber die Punkte, mit denen wir begannen, waren durchaus schlüssig. Mittendrin wurde ich dann wurde zu einem Notfall rausgerufen, der diesen Termin unerwartet unterbrach. Und ich ahnte immer noch nichts. Ich vernahm seltsame Geräusche auf dem Gang und als wir am Physiksaal um die Ecke bogen, saßen da die beiden Wachenheimer Jahrgänge auf dem Fußboden und wie auf Kommando erklang das mir so bekannte Klackern des Cupsongs, wenn die Becher im Rhythmus aufschlagen. Das ist ja Wahnsinn. Da haben die als Überraschung mit einer Extravereinbarung mit der Bahn die Kids nach Deidesheim geholt. Zwei Jahrgänge auf dem Boden, hinten ein kleiner Chor sang den Cupsong und zwei komplette Jahrgänge führten dazu die Becherbewegungen vor. Kein Wunder, dass mir bei dieser Überraschung das Wasser in die Augen fuhr. Welch eine umwerfende Überraschung! Wie oft dachte ich daran, den Cupsong, ähnlich den Videos auf Youtube, mit mehr als einer Klasse durchzuführe. Nie ergab sich eine Gelegenheit und kamen zwei Jahrgänge nach Deidesheim und schenkten ihn mir zum Abschied. Einfach umwerfend! Nachdem sich alle erhoben und Beifall für den Schulleiter klatschten, ging ich mit nassen Augen zurück zu meinem Gesprächstermin, der sich spätestens jetzt als Schulleiter-Ablenkungstermin herausstellte. Denn vom Sekretariat aus sah ich durch das Fenster, dass sich die gesamte Schülerschaft im Pausenhof versammelt hatte. Sie hielten Plakate in die Höhe mit den Buchstaben des Schulliedes: Jeder kann was prima machen! Beifall und Johlen brauste auf, als ich ans Fenster trat (So ähnlich muss sich der Papst an seinem Fenster fühlen, nur nicht so überrascht!). Natürlich wurde ich dann selbst in den Hof geleitet, eine Lautsprecherbox stand bereit und ich sollte das Wort ergreifen. Was ich da genau gesagt habe, weiß ich nicht mehr, die Aufregung und die Rührung haben die Erinnerung überdeckt. Ich rettete mich damit, dass ich mir wünschte, jetzt mit allen den Schulkanon anzustimmen. Er klang nicht so wohlgesetzt und melodiegenau, aber er erklang, hier auf dem Hof, live, die Schülerschaft, das Kollegium und ihr Schulleiter auf einem Platz vereint – welch ein Moment! Haltet die Zeit an! Oder mit Goethe gerufen: „Augenblick verweile doch, du bist so schön!“ Anschließend sprach die Schülersprecherin einige Worte des Dankes, auch, dass sich alle wünschten, ich würde bleiben und schloss die besten Wünsche für die anstehende Pension an. Wieder wurde es feucht unter den Augenlidern. Kaum Zeit mich darum zu kümmern, denn ich sah durch die feuchten Augen hindurch die Abordnung einer siebten Klasse auf mich zukommen. In der Hand trugen sie ein Dreieck aus Holzstäben, daran hingen gefaltete Kraniche in allen Farben und Größen! Ich griff wieder zum Mikrofon und zitierte die Verse: „Die Stärkeren haben mehr an Arbeit getan und loben die Schwächeren hintenan, die doch auch ihr bestes gaben!“ Ich forderte die Schülerschaft auf, dies weiterhin zu befolgen, denn es sei das Grundanliegen der Intergierten Gesamtschule.

Doch es sollte noch nicht zu Ende sein, denn ich wurde nun an die Betonwand mit dem Kanon gerufen, die Wand wurde „mir“ feierlich übergeben und ich sollte sie mit dem ersten Schloss einweihen. Einige Fünftklässler hatten sich zu mir durchgeschlagen, wollten zunächst nur eine letzte „Ghettofaust“, bis dann eine Schülerin aus Jahrgang fünf fragte, ob sie mit mir ein Selfie machen dürfe. Dutzende Smartphones wurden jetzt gezückt. Einmal angestoßen, nahmen immer weitere Selfie-Wünsche kein Ende. Wie schön ist das denn: Die Jüngsten wollten sich mit dem Ältesten fotografieren lassen! Mein Gerührt-sein sollte heute wohl keine Pause erhalten, die ganze Aktion kam einem Bad in der Menge gleich. Zurück im Sekretariat hielt mir eine der Sekretärinnen eine Packung Papiertaschentücher hin. Ich konnte das Feuchtbiotop in meinem Gesicht wohl nicht verbergen.

Viel Zeit blieb mir nicht, denn durch den vermeintlichen Gesprächstermin und die geschilderten Folgen kam ich jetzt in zeitlichen Stress. Schließlich wollte ich den drei ausscheidenden Kolleginnen und Kollegen zum Abschied „unsere“ Tasse mit dem Schul-Logo, den etwas aufwändigen Kugelschreiber mit der Aufschrift der Schule und eine Flasche des Schulweins „Lesekompetenz“ schenken und hatte doch noch nichts zusammengesucht. Es klappte aber noch und ich kam gerade noch rechtzeitig in die Turnhalle, wo wir uns, die Inzidenzzahlen regieren bis zum letzten Tag, unter Masken versammeln wollten. Alles nahm den normalen und bekannten Verlauf. Ich sollte mit den Punkten einer regulären Dienstbesprechung beginnen und dann sollte die Veranstaltung in die Personalversammkung übergehen. Es lagen dann keine Punkte für eine „richtige“ Personalversammlung vor, so dass ich auf einen Stuhl in der ersten Reihe in der Mitte gebeten wurde. So hatte ich freien Blick auf die Leinwand, die dort aufgebaut war und bisher gar nicht benutzt wurde. Mir dämmerte: Jetzt geht es um meine Verabschiedung. Dabei wollte ich die doch so klein wie möglich halten und jetzt saß ich da schon wieder im Mittelpunkt. „Ja, glaubst du, das Kollegium würde dich einfach so ziehen lassen?“. Ein Film startete und ich traute weder Ohren noch Augen: Schon wieder ging es um den Schulkanon. Dieses Mal erklang er fast vollendet mit dem Instrumentarium einer Band arrangiert, nach und nach und immer abwechselnd erschienen als Portraits die singenden Kolleginnen und Kollegen. Ein Zwischenspiel mit der Querflöte war eingebaut, vier Schülerinnen und Schüler hatten die an sich ja kurze Melodie mit einem Text als Rap dazwischen verlängert, zum Abschluss war wieder das Kollegium vielstimmig zu hören und zu sehen. Mir bebte heftig das Zwerchfell vor Rührung. Wie viele Versuche hatte ich gestartet, in den dreizehn Jahren den Kanon einmal „präsentabel“ und modern arrangiert aufzunehmen und musste für den Podcast doch auf meine Amateuraufnahme von vor dreizehn Jahren zurückgreifen. Und jetzt läuft vor mir ein Video ab, und nahezu das ganze Kollegium singt abwechselnd dazu. Der reine und wahrhaftige Wahnsinn! Fast ein Jahr lang hatte eine Kollegin, nachdem die Idee geboren war, die Kolleginnen und Kollegen gedrängt, ihr eine Aufnahme zu schicken. Alle möglichen Hilfen bot sie dafür an, sendete eine Tondatei, die man mitsingen konnte, darauf waren Tempo und Tonart vorgegeben, die Lehrkräfte konnten auch einen Film einsenden, auf dem sie lediglich die Lippen durch die bekannten Worte bewegten und doch scheuten sich einige davor. Die eingesandten Clips wurden dann in eine zuvor von Lehrkräften und den Instrumentallehrern der Bandklasse erstellte Audiospur eingebaut, ebenso der Schülerrap auf die Schule, der mit den Worten endete: „Warum es hier gefällt: Dumont, du bist ein Held!“. Zweieinhalb Minuten auf den Stuhl „gefesselt“ und starr vor Begeisterung. Obwohl ich doch keinen Anlass für Geschenke sah, erhielt ich vom Kollegium einen Gutschein für ein Seminar mit Gernot Candolini nach eigener Wahl. So zieht sich auch das Thema Labyrinth bis in den heutigen Tag hinein, einfach fabelhaft. Es folgte der Auftritt des Schulleitungsteams. Fein beobachtet füllten sie mir eine Schultüte mit meinen Eigenheiten, jeweils mit dem Satz beginnend: „Mit Georg geht auch…“. Darunter Aussagen wie: „…der letzte Filterkaffee-Trinker“, „…die Prinzenrolle als Notreserve für lange Nachmittage“, „…Schulleitungsrunden, die pünktlich zehn Minuten später beginnen“, „…Schulleiters Tagebuch“, „…Treppengespräche mit Nikotinaroma“, „…nächtliches Kopfzerbrechen und Panikgespräche, die sich mit Georgs Worten: ‚Ich sehe das Problem nicht‘ in Luft auflösen“ und „…Labyrinthe in Abschlussreden“. Ja, ja. Da steckte viel humorvolle Wahrheit drin. Und da ich künftig nicht mehr den geliebten Nusskuchen kredenzt bekommen würde, erhielt eine Kuchenform mit allen Zutaten, denn den Kuchen müsste ich mir jetzt selbst backen. Und dann erneut ein feuchtigkeitstreibender Moment, als das gesamte Kollegium nach und nach von den Stühlen aufstand und im Stehen minutenlang applaudierte. Wie soll ich das denn durchstehen? Nach einigen Versuchen konnte ich das Klatschen besänftigen und mich mit ein paar Worten verabschieden. Da sind mir die kleinen Gespräche mit einem direkten Gegenüber beim sich anschließenden Grillen zum Schuljahresschluss ja doch viel lieber. Lange Zeit konnte ich mich weder bei den mitgebrachten Salaten noch am Grill anstellen, weil ich überall nochmals angesprochen wurde. Junge, Junge, das muss man erst mal aushalten, soviel Dank, soviel Lob, soviel persönliche Wertschätzung.

Das Video mit dem Schulkanon bekam ich auch auf einem USB-Stick in Gitarrenform geschenkt. Immer wieder habe ich es am Abend angeschaut, habe auch den Kopfhörer aufgesetzt und immer wieder neue Arrangement-Teile gehört. Trotz dieses überhöhten Adrenalinspiegels schlief ich dann aber schnell ein, denn solche Tage, während derer ich im fast durchgehend im Fokus stehe, sind auf ihre spezielle Weise eben auch anstrengend.


Die bisher erschienen Bücher sind erhältlich im: www.littera-verlag.de/Bücher
(Das Autorenhonorar kommt dem Förderverein der IGS zu Gute.)

Tagebuch_6 Soeben erschienen
„Schulleiters Tagebuch 6,
Die Baustelle und Corona“
2021


Letztens 2 „Letztens 2 - ,
Erlebtes rund um die Schule“
2020

Tagebuch 5
„Schulleiters Tagebuch 5,
Warten auf den Bau“
2017 – 2019

Letztens 1 „Letztens –
Schulleiters Tagebuch ergänzende Kolumnen“

tagebuch_4_ "Schulleiters Tagebuch 4,
Der Weg zum Abitur
2014 - 2017"

Tagebuch 1-3"Deshalb IGS -
Positionen und Hintergründe zur Integrierten Gesamtschule mit Beiträgen aus Schulleiters Tagebuch 1 bis 3"

Tagebuch 3 "Schulleiters Tagebuch 3,
Die ersten Abschlüsse,
2012 - 2014"

Tagebuch 2 "Schulleiters Tagebuch 2,
Der Start in Deidesheim,
2010 - 2012"

Tagebuch 1 "Schulleiters Tagebuch,
Der Start in Wachenheim,
2010 - 2012"