Schulleiter a.D. Dumonts Tagebuch

Sonntag, 15. September 2019


Tag 77 der Baustelle:

Eigentlich sollte ich den Sonntagvormittag „YA-frei“ haben. Außerdem hatten sie sich erst für halb elf angemeldet. Doch schon nach dem Aufwachen sah ich, dass eine SMS auf meinem Handy blinkte. Eine Gastmutter hatte mir geschrieben, dass auch bei ihrer Amerikanerin die Pusteln aufgetreten seine. Da deren Eltern wohl Ärzte seien und sie zu Hause angerufen hatte, forderten die Eltern, dass sie einen Arzt aufsuchen solle. In der Nacht zu einem Sonntag? Sie einigten sich darauf, bis zum Morgen zu warten. Und dann die gleiche Auskunft: Allergie und auch wieder diese Bettwanzen, von denen ich noch nie gehört hatte!
Wir versuchten die Company-Managerin zu erreichen, die solle als Verantwortliche die weiteren Schritte entscheiden. Und dann später der Anruf meines Kollegen: Noch zwei weitere YA hatten diese Pusteln. Sie führen jetzt in die Hautklinik nach Mannheim, um Klarheit zu erlangen. In vier Familien gleichzeitig Bettwanzen? Sehr unwahrscheinlich, dann doch eher der Bus. Ich hielt mich bereit und tatsächlich klingelte das Handy kurze Zeit später und ich musste nach Wachenheim. Allerdings gab es nicht viel zu regeln, aber meine Anwesenheit war vielleicht der beruhigende Punkt. Auch die Klinik diagnostizierte nichts Anderes. Eine weitere Gastmutter erklärte sich bereit, dass die inzwischen vier Studenten bei ihr duschen könnten und sie auch alle ihre Kleider waschen und trocknen würde. Ein Ratschlag aus der Hautklinik. Was würden wir nur ohne diese Eltern anstellen! 

Danach kehrte etwas Ruhe ein und ich konnte nochmal nach Hause fahren und mich für die Show „frisch“ machen. Als ich dann wiederkam, wurden die ersten der leckeren Speisen für das Büfett von den Eltern mitgebracht. Die YA holten wie immer die Stühle für die Show aus den Klassenzimmern. Weshalb wir das nicht selbst erledigen sollen, erschloss sich mir auch bei diesem Workshop nicht. Ist eben so.

In der Halle traf ich ihn dann wieder, den Europa-Manager, mit welchem ich vor elf Jahren in Jena des Nachts beim Wein zusammensaß und er mir anbot, auch an unsere Schule zu kommen. Alle zwei Jahre sahen wir uns seither wieder und begrüßen uns so, als seien wir gestern auseinandergegangen. Später sollte er mir die Antwort auf die nächste Buchung für den Workshop 2021 schreiben und hinzufügen:

Ja, ist wirklich toll mit unseren elf Jahren, und wie die Zeit und der räumliche Abstand nicht die geringste Rolle spielen...

Draußen bildete sich langsam die Schlange derer, die Einlass für die Show begehrten. Nicht alle hatten bereits Karten und so stieg die Ungeduld. Selbst meine Versicherung, dass alle eine Karte bekommen würden, beruhigte nicht.

„George, do you want to circle with us?“. Mit diesen Worten drang Ashley, die Company-Managerin, an mein Ohr. Mein armer Kollege musste sich nachmittags abmelden. Es plagte ihn seit Dienstag eine Erkältung und die Anstrengung des Workshops hatte sie so verschlimmert, dass er sich abmelden musste. Ausgerechnet vor der Show, so dass er auch das Circeln leider nicht mitmachen konnte. Dieses Mal standen wir vorne im Hof, alle YA mit gegenseitig verschränkten Armen zu einem Kreis vereint. Ich solle doch auch ein paar Worte an die Gruppe richten. Ich dankte schon mal für die bezaubernden Tage und wünschte allen, dass die Energie und die Kraft dieses Erlebnisses mit in die Show einfließen solle. Was dann folgte, stand den anderen vier Workshops in nichts nach. Ich habe das bereits fünf Mal beschrieben (Vgl. die Einträge vom: 10. Oktober 2010; 12. September 2011; 29. September 2013; 18. Oktober 2015; 24. September 2017). Dieses Mal eröffnete ich den Abend mit der Frage an die Schülerinnen und Schüler: „Seid ihr gut drauf?“ Ein lautes „Ja!“ erschallte laut aus allen Kehlen durch die Halle. Dann dieselbe Frage an die Eltern, welcher eine ebensolche Reaktion folgte. Damit knüpfte ich an das Konzept der YA an. „Mit diesen Rufen haben Sie im Grunde das vollzogen, was dieser Workshop in erster Linie vermitteln will: Aus sich selbst herausgehen, seine angenommenen Grenzen überwinden, aus der eigenen „box“ heraustreten – oder hätten Sie heute Mittag gedacht, heute Abend in der Turnhalle ‚rumzuschreien‘“? So. oder so ähnlich leitete ich den heutigen Abend ein. Als ich auf meinem Platz saß, legte mir der Europa-Manager die Hand auf mein Knie und sagte „Danke!“.

Wie ich aus der Abrechnung wusste, haben die YA 330 Karten verkauft. Mit den Freikarten besitzenden Gasteltern, der Schülergruppe und den YA waren damit wieder knapp 600 Menschen in der Halle – welch ein Ereignis! Es wird mir immer ein Rätsel bleiben und eine Bewunderung hervorrufen, dass unsere Schülerinnen und Schüler, selbst wenn sie erst die Grundschule besuchen, sich trauen, vor dieser Menge zu singen und zu tanzen – die einengenden „Schachteln“ wurden wieder zu Hauf gesprengt und verlassen! Auch wie schnell die ganze Schule anschließend aufgeräumt ist, zeigt ebenso die innere Beteiligung der Eltern. Ob das die zweihundert Stühle sind, die flugs in die Klassenzimmer getragen wurden, ob das die Biergarnituren sind, die schnell zusammengeklappt und sauber gestapelt wurden oder ob es die Tribünenteile sind, die aufgeräumt wurden – das alles vollzieht sich ohne Lärm, mit großer Selbstverständlichkeit fast wie von selbst. Ganz wunderbar!

Und doch gab es etwas Neues in diesem Jahr. Ich erfuhr durch eine Ankündigung, dass nach der Show in einem der Klassenzimmer so genannte „auditions“ stattfinden werden für alle, die sich bei den YA bewerben wollen. Nachdem das Aufräumen weitestgehend gediehen war, wollte ich da natürlich reinschnuppern, denn drei Schülerinnen und ein ehemaliger Schüler interessierten sich dafür und nahmen an dem Vorsingen und –sprechen teil. Junge, Junge, das ging ganz schön ans Eingemachte. Die Jugendlichen sollten zunächst einen personenbezogenen Fragebogen ausfüllen, dann etwas vorsingen und vortanzen. Aufgeregtheit, zitternde Hände und schwankende Stimmen bekam ich da mit. Rückfragen zu diesem und jenem und dann die Nachricht: Binnen zweier Wochen würden die Bewerberinnen Nachricht per E-Mail erhalten. Da wurde nicht gekleckert, das ging richtig zur Sache. Chapeau vor euch, die das mitgemacht haben!

Zurück in der Halle, die YA hatten ihr Equipment bereits komplett vor den „Truck“ gebracht, sah ich mir den Boden an. Er war voller schwarzer Streifen! Nicht das Steppen mit den Metallplättchen an den Schuhen, nicht das feste Aufstampfen der Bambusstangen hatten dies verursacht, sondern – so das fachmännische Urteil eines Sportlehrers – da war einer oder mehrere mit schwarzen Sohlen unterwegs. „Und der Boden wird aus Sicherheitsgründen nicht mehr versiegelt! Das ist voll ins Material eingezogen!“, so der Hausmeister. Und nun? Wir verabredeten, dass ein Vertreter des Kreises am Morgen kommen sollte und sich das Ganze betrachten sollte. Die Kreisverwaltung hat‘s genehmigt und soll ihren Sachverstand einbringen. So schlimm wird’s schon nicht sein.

Wie zu Beginn am Freitag, konnte ich beim Packen des LKWs feststellen: Das sieht noch etwas ungeübt aus. Bisher war das Ganze ein „Abarbeiten nach genauem Plan“. Was ich heute beobachten konnte war ein oft kommentiertes und nur langsam voranschreitendes Einladen, auch mal ein erneutes Ausladen und dann geschickteres Verstauen. Vielleicht spielte auch meine Ungeduld die entscheidende Rolle, denn es war klar: Ich würde heute Nacht der letzte sein, der den Ort verlassen wird. Und alle wollten ja noch duschen, denn es stand eine Nachtfahrt für sie an! „George, do you have some food for the night?“, wollte Ashley noch vor dem Duschen wissen. Ich wickelte daher alle die durchaus leckeren Reste des Büfetts in die noch vorhandene Alufolie ein, packte alles in die zwei hölzernen Apfelkisten und stellte es bereit. In einem unbeaufsichtigten Augenblick fielen dann die ersten geduschten Tänzer über das Essen her und organisierten ein spontanes Nacht-Picknick, zu dem sich immer weitere Studenten gesellten. Da war nichts mehr aufzuhalten oder zurückzudrehen, nach und nach setzten sich alle hin und genossen die restlichen Speisen. Ich kümmerte mich derweil um unsere 36 Handtücher, die jetzt, nass vom Abtrocknen, beileibe nicht auf einem Haufen lagen, holte noch was zu trinken aus den Restbeständen und wollte doch langsam heim. Schließlich zog sich das nächtliche Mahl noch in die Länge und natürlich musste ich das „Chaos“ auch noch aufräumen, denn nichts von allem wanderte schließlich in den Bus. Wieder lagen die Reste der Reste ausgepackt und verteilt auf zwei Tischen. Puh! Als ich schließlich zu Hause ankam war es halb drei Uhr!   

Vielleicht sind es diese bei jedem Workshop angesammelten Stunden, in denen ich mit der Truppe am Anfang und am Ende allein bin, die sich noch mal ganz eigenartig in mich eingruben und dort für den besonderen Eindruck sorgen, den lediglich ich kenne. Mich erinnert diese Zeit nach der Show an die „unschuldige Ruhe“ nach einem heftigen Gewitter. Alles ist vorüber, alles ist getan, der Höhepunkt vorüber, aber Stimmung, Atmosphäre und Eindrücke reichen noch ins Jetzt hinein. Anders als sonst, war ich anscheinend so „platt“, dass ich zu Hause direkt eingeschlafen bin, Adrenalinspiegel hin oder her!


Die bisher erschienen Bücher sind erhältlich im: www.littera-verlag.de/Bücher
(Das Autorenhonorar kommt dem Förderverein der IGS zu Gute.)

Tagebuch_6 Soeben erschienen
„Schulleiters Tagebuch 6,
Die Baustelle und Corona“
2021


Letztens 2 „Letztens 2 - ,
Erlebtes rund um die Schule“
2020

Tagebuch 5
„Schulleiters Tagebuch 5,
Warten auf den Bau“
2017 – 2019

Letztens 1 „Letztens –
Schulleiters Tagebuch ergänzende Kolumnen“

tagebuch_4_ "Schulleiters Tagebuch 4,
Der Weg zum Abitur
2014 - 2017"

Tagebuch 1-3"Deshalb IGS -
Positionen und Hintergründe zur Integrierten Gesamtschule mit Beiträgen aus Schulleiters Tagebuch 1 bis 3"

Tagebuch 3 "Schulleiters Tagebuch 3,
Die ersten Abschlüsse,
2012 - 2014"

Tagebuch 2 "Schulleiters Tagebuch 2,
Der Start in Deidesheim,
2010 - 2012"

Tagebuch 1 "Schulleiters Tagebuch,
Der Start in Wachenheim,
2010 - 2012"