Schulleiter a.D. Dumonts Tagebuch

Montag, 14. Juni 2021


Tag 702 der Baustelle

Überall im Lande wohl das gleiche Bild: Ganze Klassen kehren in den Schulbetrieb zurück. Nur bei uns sehe ich nur einzelne Schülerinnen und Schüler, im Schlepptau (meistens) die Mütter auf dem Weg zu den Schüler-Eltern-Lehrer-Gesprächen mit den Tutorinnen und Tutoren. Wie werden sie dieses verkorkste letzte Halbjahr bewerten? Was hat im Home-Schooling funktioniert? Was nicht? Und wie all die Jahre zuvor auch, nehme ich eine entspannte Atmosphäre wahr. Viele begrüßen mich freundlich und lächelnd, zumindest leite ich das von dem ab, was ich hinter den Masken vermuten kann, wenn ich lediglich in Augen blicke. Aber da gibt es ja noch die Ohren, zu denen immer wieder ein Gruß in fröhlicher Satzmelodie durch die Masken vordringt: „Hallo, Herr Dumont!“

Dieser Tag ist auch prädestiniert, um als Schulleitung besondere Stunden zu verbringen. Wir haben uns jedenfalls heute auf ein sehr lange vor uns hergeschobenes Gerüst zur Verteilung der Schulleitungspauschale geeinigt. Jeder musste was abgeben und verteilen, um am Ende eine brauchbare Entlastung zu erhalten.

Und ja: mit Spannung erwartete ich heute meine Ankunft zu Hause, denn ich hatte ein Buch bestellt, online und gebraucht, das heute gekommen sein müsste. Wie schön: der braune Umschlag lag auf dem Küchentisch. Ich öffnete ihn flugs und hatte das schmale Büchlein von Friedrich Christian Delius mit dem Titel Die linke Hand des Papstes in der Hand (Berlin 2013). Es wurde in der Kulturgeschichte Hände von Hörisch erwähnt. Die kurze Inhaltsangabe und dieser prägnante Titel reizten mich schon beim Lesen derselben in der Eifel. Auch ist mir der Autor durch eine mich seinerzeit faszinierende Erzählung bekannt. Also: Das Buch musste her! Gleich machte ich mich daran, den Anfang der lediglich 123 Seiten zu lesen:

„Die Hand, dachte ich am ersten März-Sonntag des Jahres 2011 – was ist mit der Hand? Offen, leicht gebogen aus dem schwarzen Ärmel entspannt nach unten hängend, die Finger locker beieinander, weiß und weichlich, was tut die Hand des Papstes, wenn er nichts tut? Viel erfahren wir Zuschauer über diesen Mann, ob wir wollen oder nicht, ständig werden seine Gesichter, seine Gewänder, seine Fensterbühnen gezeigt, jeden Sonntag könnte man ihn singen, sprechen und segnen hören, täglich möchten Tausende mit ihm gefilmt oder fotografiert werden, überall wird er zitiert, wird sein violettes Lächeln auf Postkarten verkauft, seine Macht beschworen, gesucht, bezweifelt, seine Rolle geliebt, geschätzt oder verachtet – aber seine Hände, nichts weiß man über seine Hände, was ist mit den Händen?“ (ebd. S. 7).

Der Ich-Erzähler trifft zufällig in einer kleinen protestantischen (!) Kirche in Rom auf den Papst, der, inkognito und ohne Pomp gekleidet, rechts neben ihm auf einer Bank aus Marmor sitzt, so dass er, leicht hinüberschauend, die linke Hand des Papstes sieht. Als pensionierter Archäologe ist er schon beruflich gewohnt gewesen, mittels Pinseln, Bürstchen und Spateln kleinschrittig und penibel Schicht um Schicht ein Objekt freizulegen und vom kleinen Detail auf das vermutete Ganze zu schließen. Diese Erfahrung nutzend, nimmt er die linke Hand des Papstes in den Blick.

„Die Hände zogen meine Blicke an, die vermutete Müdigkeit alter aber immer noch mächtiger Hände war es, über die ich ins Sinnieren kam. Und die Untätigkeit, die sie vielleicht nicht gewohnt waren, ausnahmsweise einmal nicht gebraucht für eines der jahrhundertealten Rituale des Amtes und der Würde, nicht grüßend und zum Segen erhoben, andere Hände drückend, Unterschriften mit Tinte malend, Buchseiten umblätternd, betend, Hostien oder Besteck haltend. Die rührenden Hände, die pausierenden, die in diesen Minuten arbeitslosen Hände eines Unfehlbaren, sie luden mich ein, sie provozierten mich nachzudenken, sie lockten, hinter ihr Geheimnis zu kommen, wenn es denn ein Geheimnis geben sollte, das sie so auffällig weich und schlaff an einem schlaffen Körper hängen ließ, sie gaben mir Rätsel auf“ (ebd. S. 9).

Schon auf den ersten Seiten faszinierende Gedanken, die mich sofort ansprachen ob der Grundidee und der ungewöhnlichen Ausgangssituation und einen Sog zum Weiterlesen auslösten. Schade, dachte ich, dass mich die nächsten Tage beruflich ziemlich in Beschlag nahmen, denn unbedingt wollte ich dem Archäologen und dem Handmotiv ungeduldig weiter folgen.     


Die bisher erschienen Bücher sind erhältlich im: www.littera-verlag.de/Bücher
(Das Autorenhonorar kommt dem Förderverein der IGS zu Gute.)

Tagebuch_6 Soeben erschienen
„Schulleiters Tagebuch 6,
Die Baustelle und Corona“
2021


Letztens 2 „Letztens 2 - ,
Erlebtes rund um die Schule“
2020

Tagebuch 5
„Schulleiters Tagebuch 5,
Warten auf den Bau“
2017 – 2019

Letztens 1 „Letztens –
Schulleiters Tagebuch ergänzende Kolumnen“

tagebuch_4_ "Schulleiters Tagebuch 4,
Der Weg zum Abitur
2014 - 2017"

Tagebuch 1-3"Deshalb IGS -
Positionen und Hintergründe zur Integrierten Gesamtschule mit Beiträgen aus Schulleiters Tagebuch 1 bis 3"

Tagebuch 3 "Schulleiters Tagebuch 3,
Die ersten Abschlüsse,
2012 - 2014"

Tagebuch 2 "Schulleiters Tagebuch 2,
Der Start in Deidesheim,
2010 - 2012"

Tagebuch 1 "Schulleiters Tagebuch,
Der Start in Wachenheim,
2010 - 2012"